©Joerg Schaffelhofer, Lyrik und Prosa

Monat: Juni 2024 (Seite 1 von 2)

Seitenwechsel

In der letzten Zeit hatte er das Gefühl, dass ihm die Leute auf der Straße auswichen. Seit einigen Tagen schon, es war ihm zunächst gar nicht bewusst gewesen. Er lief durch die Geschäftsstraßen, als plötzlich ein entgegenkommender älterer Herr die Straßenseite wechselte. Zunächst dachte er sich nichts dabei, doch bei diesem einen an sich harmlosen Ereignis blieb es nicht. Minuten später war es eine junge Frau, die vor ihm einen Haken schlug und auf die andere Seite eilte. Was ist denn heute mit den Leuten los, wunderte er sich.

Als sich am nächsten Tag das Gleiche immer weiter häufte, begann er die Sache ernster zu nehmen. Das konnte doch kein Zufall sein. Er begann, die fliehenden Passanten zu beobachten und stellte mit Erstaunen fest, dass all diese Leute, gerade noch fast panisch vor ihm geflohen, auf der anderen Seite in aller Seelenruhe ihren Weg fortsetzten, als wäre nichts geschehen. Sie würdigten ihn nicht einmal mehr eines Blickes.

Dann allerdings, wenige Tage später, spitzte sich die Lage weiter zu. Niemand benutzte mehr seine Seite, so als wäre sie gesperrt oder gar nicht vorhanden. Das wurde ihm zu bunt und er trat ebenfalls auf die andere Seite. Prompt ging ihm der ganze entgegenkommende Menschenstrom wiederum aus dem Weg.

Jetzt, da ihm das alles doch zu merkwürdig vorkam, blieb er stehen und aus Verzweiflung oder Eingebung wandte er sich um. Nicht zu glauben, was er sah: Hinter ihm standen viele, zahllose Menschen, verharrten hinter ihm.
Er ahnte, worauf sie warteten, drehte sich um und wandte ihnen wieder den Rücken zu. Lief einige Meter, blieb stehen und blickte zurück. All die Passanten waren ihm gefolgt, und warteten jetzt wieder, wie erstarrt. Er schaute sie an, behielt sie im Blick, während er nun ein paar Schritte rückwärts lief, auf sie zu. Sie wichen vor ihm zurück, jedoch ohne vor ihm auf die andere Straßenseite zu flüchten. Das gefiel ihm, gab ihm Sicherheit.

Einen Moment atmete er durch, dann spazierte er los, ohne Ziel, aber glücklich durch die Stadt. Entspannt, als wäre nun alles wieder in der schönsten Ordnung. Bald vergaß er dabei sogar die vielen Menschen, die ihm wohl immer noch folgten.

nacht

nacht auf dem balkon
und ich gehe schlafen
wenn die stadt erwacht

mit ersten stimmen
autotüren und motoren
handyklingeltönen

dann bleibt mir nur
meine sehnsucht
nach der nacht

der beutel

am straßenrand
ein stoffbeutel vielleicht
aus jute ich kenn mich da
nicht so aus

vom fahrrad gefallen
sagst du und ich
kann sein

was wohl drin ist
denke ich und du fragst es

schulterzucken

und so bleibt
der beutel samt
inhalt dort liegen

irgendwann denke ich
bestimmt mal wieder dran

oder du

was nun

ich werde ihn fragen
nach seinem leben
seiner kindheit
nach seiner jugend

wie er gespielt
sich gefühlt
was er geliebt hat

das sagte er sich oft
und immer fehlte
nur die gelegenheit
dieser eine augenblick

nein

es war der fehlende mut
der sie trennte
sie waren sich zu ähnlich

jetzt liegt er da
dieser vater
wortlos im koma

ja, was nun?

was bleibt

die füße im pool und
in den händen hält sie

ihren scotch soda
und er einen gin tonic
die geschmäcker sind verschieden

verspieltes
eiswürfelklirren
in die stille hinein

ab und zu
durch die ray ban
ein blick zum himmel

schäfchenwolken
das wetter hält wohl
bis zum dinner

kommt mir in den sinn

dunkle wolken
ziehen über mich hinweg

gewitterregen
treibt die leute und
ein schwarzer schirm
fliegt widerspenstig
durch die gasse

der Blaue Bembel
ist verrammelt seit dem
letzten jahr

hier kommst du nicht mehr rein

raunt ein rostiges schild
an der eingangstür

in den bürohäusern
gehen über mir
die lichter aus

und es bleiben diese
dunklen wolken

abfahrt

langsam fährt die bahn
an mir vorbei

ein film aus
lachen und tränen
in sekundenfenstern

erst face to face
dann immer schneller
und im abspann schließlich

rote lichter

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